Interview: Ein Leben mit Depression und Borderline

Ein Leben mit Depressionen und Borderline ist ein Leben voller Herausforderungen. Alicia hat sich diesen Herausforderungen immer wieder aufs Neue gestellt. Und sie spricht offen über diesen Kampf um ein glückliches und normales Leben.

Es ist unglaublich. Unglaublich, was für wunderbare, starke und mutige Mädels es gibt! Die großartige Aylin und die tolle Lena sind zum Beispiel solche Heldinnen – ebenso wie Alicia.
Alicia ist 21 Jahre alt, ihr Leben hat sie immer gefordert und oft überfordert, doch sie gibt trotzdem nicht auf. Alicia leidet unter schweren Depressionen und unter Borderline.
Ich habe mit Alicia über ihre Gefühle und ihre Erfahrungen mit diesen psychischen Erkrankungen gesprochen – und bin tief beeindruckt von ihrer Stärke.

Doch zunächst einmal möchte ich dir sagen, dass dieser Text nicht einfach ist. Alicia spricht sehr offen über ihr Leben, sie berichtet von Selbstverletzung und Suizidversuchen.
Wenn es dir selber nicht gut geht und du vielleicht sogar unter Depressionen oder Borderline leidest, könnte dieser Artikel etwas bei dir auslösen, was alles nur noch verschlimmert.
Bitte, pass auf dich auf und lese diesen Beitrag nur, wenn du dich stark genug dafür fühlst.

Ein Leben mit Depression und Borderline

Alicia lebt 40 Kilometer entfernt von Stuttgart. In einem Dorf, das so klein ist, dass noch nicht einmal das Handynetz richtig ausgebaut ist. Alicia und ich telefonieren deshalb lieber über Festnetz miteinander, um ungestört und störungsfrei miteinander sprechen zu können.

In der Nähe ihres heutigen Zuhauses ist Alicia auch aufgewachsen. Hier ist sie in den Kindergarten gegangen und in die Grundschule. Eine Zeit, die sie noch ganz gut, zumindest nicht schmerzhaft in Erinnerung hat.
Doch mit Ende der Grundschule ändert sich vieles: „In der Schule war es sehr schwer für mich . Ich habe irgendwie überall angeeckt und nirgendwo so richtig reingepasst“, erzählt Alicia. „Ich war nicht sportlich, nicht dünn, hübsch oder talentiert. Ich hatte also nichts an mir, für das man mich hätte bewundern können.“
Dieses verzerrte Selbstbild wird von Alicias Mitschülern auch noch gestärkt: „Ich wurde viel gemobbt. Die anderen nannten mich „hässlich“ und „fett““, so Alicia.
Um den anderen trotzdem zu gefallen, versucht Alicia alles – sie beschwert sich nie, ist nett zu allen und lässt ihre Mitschüler die Hausaufgaben abschreiben.
Als jedoch auch das nicht hilft, gibt Alicia sich selbst die Schuld an allem. Sie möchte sich verändern, sich selbst bestrafen – also beginnt sie, ihr Essen nach jeder Mahlzeit wieder auszuspucken. „Die Bulimie war eine Möglichkeit, mir selbst wehzutun. Ich habe mich gehasst und gedacht, ich sei ein schlechter Mensch und würde es verdienen, gemobbt zu werden“, erinnert sich Alicia. „Das Spucken wirkte befreiend, es baute meinen Stress ab und ich hatte das Gefühl, so endlich wieder Kontrolle über mein Leben zu haben.“
Doch irgendwann reicht ihr diese Art von Kontrolle auch nicht mehr: „Ich war 14, als ich damit begann, mich zu ritzen. Ich wollte mir wehtun, um zu spüren, dass ich lebe“, erzählt Alicia.

Alicia beginnt, sich selbst zu verletzen

Alicia war klar, dass ihr Verhalten nicht gesund ist, dass sie Hilfe braucht. Immer häufiger fühlte sie sich total niedergeschlagen und völlig überfordert mit allem, sie ahnt, dass sie in einer schweren Depression steckt. „Ich wollte mir damals Hilfe holen und zu einem Therapeuten gehen, doch Zuhause hat mich keiner verstanden. Heute ist es anders, aber damals wurde mein Problem abgetan“, sagt sie.

Die Abwärtsspirale, in der Alicia steckt, wird nicht aufgehalten und sie ist nur noch niedergeschlagen, traurig und schrecklich überfordert.
Dieses Leben ist einfach zu viel für sie – deshalb versucht sie, es zu beenden, sie schneidet sich die Pulsader auf und schluckt Tabletten. „Es ist schrecklich, was ich mir selbst damals alles angetan habe. Aber ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen. Ich wollte, dass es endlich aufhört, es tat einfach so schrecklich weh“, erinnert sich Alicia.
Obwohl sie ihr Leben wirklich beenden möchte, spielt auch der Wunsch nach Aufmerksamkeit bei ihren Suizidversuchen eine große Rolle, weiß Alicia heute: „Vielleicht ist schwer, es zuzugeben, aber ich habe die Aufmerksamkeit genossen. Ich fand es schön, dass sich alles um mich dreht. Danach hatte ich mich so sehr gesehnt.“

Alicia sehnte sich nach Geborgenheit, Sicherheit und Unterstützung. Etwas, das wir uns doch alle wünschen, oder? Deshalb ist es umso schockierender, dass einige Menschen einen missglückten Selbstmord nicht ernst nehmen oder unterstellen, es sei „nur“ ein Versuch, Aufmerksamkeit zu bekommen.
Ja, auch der Wunsch nach Aufmerksamkeit kann hinter einem Suizid stehen – doch das bedeutet nicht, dass man ihn weniger ernst nehmen muss.

Ob aus dem Willen heraus, sein Leben zu beenden oder aus dem Wunsch, nach Aufmerksamkeit: Ein Mensch, der sich auf diese Weise Schaden zufügt, dem geht es nicht gut. Dieser Mensch braucht Hilfe, Unterstützung und, ja, Aufmerksamkeit!

Alicia sucht sich endlich Hilfe

Endlich erhält auch Alicia all das – sie geht zu Therapeuten und lässt sich in Kliniken für psychische Erkrankungen behandeln. Dort lernt sie ihre Gefühlswelt kennen und sie versteht allmählich, warum es ihr geht, wie es ihr geht.
Sie versteht, dass sie unter Depressionen und unter Borderline leidet. Was genau der Unterschied zwischen diesen beiden psychischen Erkrankungen ist? Alicia erklärt ihn so: „Bei einer Depression hast du Phasen, in denen es dir total schlecht geht und du dich nur noch niedergeschlagen fühlst. Bei Borderline ist es anders: Borderline ist ein ständiger Wegbegleiter. Egal, ob du gerade glücklich bist oder traurig, du fühlst immer und andauernd eine Schwere in dir.“

Heute kann Alicia gut mit ihren Erkrankungen leben. Natürlich haben ihr die Therapien dabei geholfen, sich wieder besser zu fühlen, aber in allererster Linie hat sie sich selbst geholfen! „Ich habe mich irgendwann gefragt: Soll mein Leben wirklich so laufen? Soll es davon bestimmt sein, dass ich mir wehtun möchte? Nein, ich wollte mich nicht länger hinter meiner Krankheit verstecken. Es hat gedauert, aber ich habe mich dafür entschieden, mein Leben weiterzuführen und es genießen zu können“, erklärt Alicia.
Genau diese Einstellung braucht es, um glücklich im Leben zu werden, glaubt Alicia. „Mit einer Therapie ist es nicht getan. Du musst an dir arbeiten. Jeden Tag. Es ist anstrengend und schwer, aber es lohnt sich“, sagt sie.

Borderline und Depressionen fordern viel Kraft und Mut

Doch Alicia weiß, dass nicht nur der Wille und positive Gedanken alleine reichen, wenn das eigenen Leben aus den Fugen gerät. Deshalb hat sie sich Tricks angeeignet, die sie durch schwierige Situationen retten. „Du musst dir kleine Ziele setzen. Sonst setzt du dich zu sehr unter Druck. Versuche zum Beispiel, eine Stunde lang zu Weinen, ohne zum Messer zu greifen und dich selbst zu verletzen“, rät Alicia. „Außerdem kannst du nach Alternativen suchen. Statt dich zu ritzen, stell dich unter eine Dusche mit eiskaltem Wasser, iss eine scharfe Chilischote oder lass ein Gummiband gegen dein Handgelenk schnippen. Das alles tut weh, richtet aber keinen Schaden an.“
Außerdem schwört Alicia auf Ablenkung: Wenn es ihr nicht gut geht, geht sie mit ihrem Hund spazieren oder joggen. Und sie redet. Sie spricht über ihre Krankheit und ihren Umgang damit. „Das hilft. Ich würde mir wünschen, mehr Menschen würden offener damit umgehen“, so Alicia.
Sie wünscht sich auch, dass Menschen, denen es besser geht, aktiv werden: „Wenn du jemanden in der Bahn oder auf der Straße siehst, der Narben vom Ritzen auf den Armen hat, dann sprich ihn an. Trau dich, zu fragen, wie es demjenigen geht. Ein kurzes Gespräch und eine kleine Aufmerksamkeit kann schon so viel helfen.“

Liebe Alicia, ich habe es dir schon persönlich gesagt und ich sage es jetzt noch einmal: Vielen lieben Dank, liebste Alicia, dass du so offen über deine Erfahrungen sprichst und dass du bereit bist, dich dem Leben zu stellen.

Brauchst auch du Hilfe?

Wenn du mit ähnlichen Herausforderungen wie Alicia zurechtkommen musst, du unter Depressionen oder Borderline leidest oder es dir einfach nur nicht gut geht und du nicht weißt, wo du Hilfe bekommen kannst, dann wende dich an eines der Notruftelefone wie „Nummer gegen Kummer“ für Jugendliche. Dort gibt es Ansprechpartner, die dir bei deinen Problemen weiterhelfen und dich unterstützen.

Wenn du Alicia ein paar Worte hinterlassen möchtest, kannst du das gerne direkt hier im Kommentarbereich tun. Ich bin mir sicher, dass sie sich über jede einzelne Nachricht von euch freuen wird.
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Alicia ist großartig – und du, liebe Leserin, bist es auch!

Alles Liebe,
Isi von Mädelsschnack

 

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